Heldengeschichten sind im Storytelling ein beliebtes, aber leider nicht universell einsetzbares Mittel. So erlebt vor einigen Monaten mit dem Auftrag eines Gründers im Online-Marketing für Pflegepersonal. Ich sollte als Ghostwriterin seinen ‘Heldenweg’ mit allem Pipapo — Herausforderungen, Überwindungen und krönender Erfolg — schreiben. Die Aufgabe kam von seinen Beratern, in die er ordentlich investiert hatte: ein junges, im Übrigen rein männliches, Marketing-Start-up, das auf seiner Website vor allem vollmundig Erfolg versprach.
Kein Drachentöter
Dumm nur, dass ihr Kunde gar nicht den Typ ‘Helden’ verkörperte und sich entsprechend schwer tat, seine Heldengeschichte selbst zu erschaffen. In meinen Augen war er vor allem eine sympathische, vertrauenswürdige Erscheinung, und er kannte sich mit dem Thema Pflege gut aus. Er wollte keine Drachen töten, sondern echte Probleme lösen — und das möglichst schnell. Und da er unter einem gewissen Erfolgsdruck stand, wollte er nur zu gerne glauben, was ihm die Altersgenossen versprachen. Es hätte viele Ansatzpunkte für die Vermarktung seiner Geschäftsidee gegeben — der vorgegebene passte leider nicht zu seiner Realität, wie ich heute beim Googeln seiner Website feststellen musste.
Was ist ein Held?
Ein Held ist eine “männliche Person, die sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihr Bewunderung einträgt”, so der Duden. Die Heldengeschichte dient im klassischen Marketing dazu, die potenzielle Kundin oder den potenziellen Kunden emotional zu involvieren. Ich war überrascht, dass dieses Helden-Ding, das ein Bild von Unternehmensführung mit Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, Risikobereitschaft und aggressives Wachstum in den Vordergrund stellt, anscheinend so weiterlebt — und das bei augenscheinlich modernen, jungen Männern bzw. Gründern (die Coachs des “Pflegefalls” waren nicht die einzigen, wo sich mir das offenbarte). Dabei kenne ich viele Menschen der Generation Y und Z, die mit den klassischen Rollenbildern gebrochen haben und offen sind für diverse Erzählmuster und die Kreation vielfältigerer Geschichten. Warum leben die alten Modelle also hier weiter?
Reproduzierte Stereotype
Ein Start-up, das steht für schnelle Erfolge und Wachstum, für Autonomie und Gestaltungsfreiheit in einem dynamischen Umfeld. Besonders im Tech-Bereich gelten junge, männliche Gründer oft als das prototypische Erfolgsmodell. Die Vorstellung, ein eigenes Unternehmen zu gründen und erfolgreich zu machen, entspricht dem klassischen Heldenmythos. Das macht es besonders attraktiv für junge Männer, die nach Anerkennung und Status streben. Und wer einmal davon getrieben ist, wird sein Weltbild auch nur zu gerne auf die Kunden übertragen.
Marketing von Männern für Männer
In der Start-up-Szene wird das Marketing also in vielen Fällen von Männern für Männer gemacht, was die Reproduktion von stereotypen Rollenbildern fördern kann. Hinzu kommt, dass Frauen in der Start-up-Szene immer noch deutlich unterrepräsentiert sind — nur ein kleiner Prozentsatz der Start-ups wird von Frauen gegründet oder weiblich geführt. Insofern mangelt es auch an weiblichen Vorbildern. Studien zeigen außerdem, dass Gründerinnen im Durchschnitt weniger Finanzmittel erhalten als Gründer. Dies liegt oft an bestehenden Vorurteilen und Netzwerkeffekten. Männer dominieren die Netzwerke in der Start-up-Szene, was es für Frauen schwieriger macht, an Informationen und Ressourcen zu gelangen.
Vielfalt & Visionen
Vielfalt im Marketing bedeutet nicht nur, dass unterschiedliche Menschen angesprochen werden, sondern auch, dass neue Perspektiven auf Führung und Erfolg geboten werden. Besonders in der Pflege, einem Bereich, in dem Eigenschaften wie Empathie und Kommunikation essenziell sind, gibt es großes Potenzial, alternative Erzählmuster zu entwickeln. Hier können Geschichten erzählt werden, die nicht auf den klassischen Heldenmythos setzen, sondern authentische, partnerschaftliche Ansätze in den Vordergrund rücken.
Ein Start-up könnte auch Visionär sein: Statt Bewunderung im Hier und Jetzt ernten zu wollen, richtet es mit seiner Geschichte den Blick nach vorne und inspiriert andere, Teil einer größeren Bewegung zu werden. Eine reale und greifbare Story mit Visionen von echten Lösungen wirkt nachhaltiger, als Heldengeschichten, die am Ende nur Fantasie bleiben. Storytelling kann vielfältig und vielschichtig sein, wenn es ehrlich ist und der Realität der Gründer oder der Marke entspricht.
Kurzum:
Lassen Sie sich nicht einreden, dass Ihr Unternehmen eine Heldengeschichte braucht. Erzählen Sie Geschichten — gerne auch mit meiner Unterstützung —, die zu Ihnen und Ihrem Unternehmen passen! Authentisch, nachhaltig und überzeugend!