Wenn zur internationalen Verständigung die Worte fehlen, kommt heute oft eine Übersetzungsapp zum Einsatz – oder ganz einfach Emojis. Bedenklicher Weise auch in der Diplomatie: Im März dieses Jahres bedienten sich führende Köpfe der US-Außenpolitik einer Auswahl eindeutiger Symbole, um den Bombenhagel auf den Jemen zu feiern.
Jedenfalls dachte ich da etwas sehnsüchtig an den schönen Begriff der Lingua Franca. Im Spätmittelalter verständigten sich Händler, Söldner, Reisende verschiedenster Herkunft im Melting Pot rund ums Mittelmeer in “Pidgin”, einer vereinfachten, funktionalen Mischsprache aus Italienisch, Spanisch, Griechisch, Arabisch, Französisch. Später bezeichnete Lingua Franca eine Sprache, die von Sprechern verschiedener Muttersprachen als gemeinsame Verkehrssprache genutzt wird – wie das Englische heute.
Lingua Nova Digitalis
Sprache ist immer auch ein Machtmittel. Die Lingua Franca vergangener Jahrhunderte folgte kolonialen, politischen, wirtschaftlichen Logiken. Wer das Zentrum bestimmte, bestimmte auch die Sprache.
Heute verläuft sprachliche Macht eher zirkulär und plattformbasiert. Sprachwandel geschieht nicht mehr in den Schaltzentralen, sondern an den Rändern. In digitalen (Sub-)Kulturen, auf Gaming-Servern, in WhatsApp-Gruppen, auf YouTube in Nairobi, Delhi oder Manila. Und ganz nebenbei entsteht daraus eine neue, wilde Mischsprache: funktional, global, oft erstaunlich poetisch und grammatikalisch schmerzfrei.
Was passiert, frage ich mich angesichts des aktuellen Geschehens auf der Welt, wenn sich die geopolitische Achse und kulturelle Kraftfelder vom “Westen” verschieben? Wenn Asien oder Afrika ihren großen und wachsenden, technologiebegeisterten und innovativen Bevölkerungsgruppen mehr in den Mittelpunkt rücken?
Vibe check
Schon jetzt zeigt sich diese Verschiebung in der Sprache. Was auf TikTok viral geht, was in Memes lebt, was in Threads und Streams gesprochen wird – das ist längst kein Schulenglisch mehr, sondern ein globaler Slang, der Codes, Sounds und Ausdrücke aus allen Ecken der Welt aufnimmt. Ein vibrierendes Idiom, das weniger mit Grammatik als mit Tempo, Tonfall und Zugehörigkeit zu tun hat.
Dieser Slang wächst aus der Dynamik digitaler Begegnungen, aus der Vielfalt von Stimmen und oft auch aus den kuriosen Missverständnissen, die entstehen, wenn Kulturen aufeinandertreffen. Doch genau darin liegt sein Potenzial: als sprachliches Modell einer vernetzten, vielstimmigen Welt.
Pidgin reloaded?
Der großartige, kluge Science-Fiction-Film von Michael Winterbottom, Code 46, hat diese Welt bereits 2003 angedeutet: eine Zukunftsgesellschaft in einer multipolaren Welt mit mehreren Machtzentren wie Seattle, Dubai und Shanghai, in der Menschen aus aller Welt in einer globalen Pidgin-Verkehrssprache kommunizieren, die Elemente aus dem Englischen, Spanischen, Französischen, Italienischen, Arabischen, Farsi und Mandarin enthält. (Triggerwarnung: Der Film ist dystopisch düster, aber in seinem Blick auf zukünftige ökologische und gesellschaftliche Zustände ebenso wie auf digitale und biotechnische Entwicklungen schon vor einem knappen Vierteljahrhundert bemerkenswert vorausschauend!)
Sauti ya dunia* – Sound der Welt
Vielleicht ist genau das die Richtung, in die wir unterwegs sind. Nicht eine neue dominante Weltsprache, sondern ein flexibles, wandelbares Kommunikationssystem. Eines, das weniger trennt, sondern mehr verbindet. Und das sich nicht von oben durchsetzt, sondern von unten, aus Millionen digitaler Alltage heraus entsteht.
Vielleicht ist die digitale Welt – bei aller Fragmentierung – gerade deshalb der beste Ort für eine neue Lingua Franca: weil sie niemandem gehört. Weil sie Stimmen aus Kapstadt, São Paulo, Berlin und Seoul gleichberechtigt miteinander mischen lässt. Und wer weiß – vielleicht klingt die Sprache der Zukunft nicht nach Macht, sondern nach Miteinander.
*Swahili. A propos: Auf Zansibar könnte man mal das famose Musikfestival Sauti Za Busara besuchen🪘