Lingua Franca - Sprache in Zeiten der Digitalisierung

Lingua Franca

Wenn zur internationalen Verständigung die Worte fehlen, kommt heute oft eine Übersetzungsapp zum Einsatz – oder ganz einfach Emojis. Bedenklicherweise auch in der Diplomatie: Im März dieses Jahres bedienten sich führende Köpfe der US-Außenpolitik einer Auswahl eindeutiger Symbole, um den Bombenhagel auf den Jemen zu feiern. Jedenfalls dachte ich da etwas sehnsüchtig an den schönen Begriff der Lingua Franca.

Historische Verkehrssprachen wie das Mittelmeer-Pidgin

Die mediterrane Lingua Franca war eine von vielen historischen Verkehrssprachen, die Menschen in verschiedenen Weltregionen zur Verständigung nutzten. Im Spätmittelalter verständigten sich Händler, Söldner, Reisende verschiedenster Herkunft im Melting Pot rund um das Mittelmeer in “Pidgin”, einer vereinfachten, funktionalen Mischsprache aus Italienisch, Spanisch, Griechisch, Arabisch, Französisch. 

Im Nahen Osten wurde Aramäisch als Handelssprache genutzt, in Südasien spielten Sanskrit und Pali eine wichtige Rolle, während Swahili an der ostafrikanischen Küste den Handel und Austausch prägte. In Ostasien war Mandarin als überregionale Schriftsprache verbreitet, und im mittelalterlichen Europa fungierte Latein als Lingua Franca von Kirche und Wissenschaft. Zudem entstanden im Zuge kolonialer Handelsbeziehungen diverse Pidgin- und Kreolsprachen, etwa Tok Pisin im Pazifik.

Heute ist Englisch die meistgenutzte Lingua Franca weltweit – eine gemeinsame Verkehrssprache für Menschen rund um den Globus, deren Englischkenntnisse sich im übrigen dank digitaler Plattformen, insbesondere Streamingdiensten, stetig verbessern. 

Die Lingua Franca und die Macht – im kolonialen und im digitalen Zeitalter

Sprache ist immer auch ein Machtmittel. Die Lingua Franca vergangener Jahrhunderte folgte kolonialen, politischen, wirtschaftlichen Logiken. Wer das Machtzentrum bestimmte, bestimmte auch die Sprache.

Heute verläuft sprachliche Macht eher zirkulär und plattformbasiert. Sprachwandel geschieht nicht mehr in den Schaltzentralen, sondern an den Rändern. In digitalen (Sub-)Kulturen, auf Gaming-Servern, in WhatsApp-Gruppen, auf YouTube in Nairobi, Delhi oder Manila. Und ganz nebenbei entsteht daraus eine neue, wilde Mischsprache: funktional, global, oft erstaunlich poetisch und grammatikalisch schmerzfrei.

Was passiert, frage ich mich angesichts des aktuellen Geschehens auf der Welt, wenn sich die geopolitische Achse und kulturelle Kraftfelder vom “Westen” verschieben? Wenn Asien oder Afrika ihren großen und wachsenden, technologiebegeisterten und innovativen Bevölkerungsgruppen mehr in den Mittelpunkt rücken? 

Globale Slangs: TikTok, Memes und der neue Sprach-Mix

Schon jetzt zeigt sich diese Verschiebung in der Sprache. Was auf TikTok viral geht, was in Memes lebt, was in Threads und Streams gesprochen wird – das ist längst kein Schulenglisch mehr, sondern ein globaler Slang, der Codes, Sounds und Ausdrücke aus allen Ecken der Welt aufnimmt. Ein vibrierendes Idiom, das weniger mit Grammatik als mit Tempo, Tonfall und Zugehörigkeit zu tun hat.

Dieser Slang wächst aus der Dynamik digitaler Begegnungen, aus der Vielfalt von Stimmen und oft auch aus den kuriosen Missverständnissen, die entstehen, wenn Kulturen aufeinandertreffen. Doch genau darin liegt sein Potenzial: als sprachliches Modell einer vernetzten, vielstimmigen Welt.

Pidgin reloaded? Science-Fiction trifft Sprachrealität, fast…

Der großartige, kluge Science-Fiction-Film von Michael Winterbottom, Code 46, hat diese Welt (wenn auch ohne die Dynamiken der Digitalisierung vollends berücksichtigt zu haben) bereits 2003 angedeutet: eine Zukunftsgesellschaft in einer multipolaren Welt mit mehreren Machtzentren wie Seattle, Dubai und Shanghai, in der Menschen aus aller Welt in einer globalen Pidgin-Verkehrssprache kommunizieren, die Elemente aus dem Englischen, Spanischen, Französischen, Italienischen, Arabischen, Farsi und Mandarin enthält. Höchst spannend zu hören und eine sehr nachvollziehbare Entwicklung. (Triggerwarnung: Der Film ist dystopisch düster, aber in seinem Blick auf zukünftige ökologische und gesellschaftliche Zustände ebenso wie auf digitale und biotechnische Entwicklungen schon vor einem knappen Vierteljahrhundert bemerkenswert vorausschauend!)

Sauti ya dunia* – Der Sound der Welt für ein neues Miteinander

Vielleicht ist genau das die Richtung, in die wir unterwegs sind. Nicht eine neue dominante Weltsprache, sondern ein flexibles, wandelbares Kommunikationssystem. Eines, das weniger trennt, sondern mehr verbindet. Und das sich nicht von oben durchsetzt, sondern von unten, aus Millionen digitaler Alltage heraus entsteht.

Vielleicht ist die digitale Welt – bei aller Fragmentierung – gerade deshalb der beste Ort für eine neue Lingua Franca: weil sie niemandem gehört. Weil sie Stimmen aus Kapstadt, São Paulo, Berlin und Seoul gleichberechtigt miteinander mischen lässt. Und wer weiß – vielleicht klingt die Sprache der Zukunft nicht nach Macht, sondern nach Miteinander.

*Swahili. A propos: Auf Zansibar könnte man mal das famose Musikfestival Sauti Za Busara besuchen🪘

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