#gerneperdu steht heute in vielen Signaturen – doch sind wir im echten Leben wirklich schon so weit? Über den Umgang mit Nähe und Distanz hier und anderswo auf der Welt.
Neulich las ich über eine bemerkenswerte japanische Gepflogenheit: Büroangestellte, die früh zur Arbeit kommen, stellen ihr Auto auf dem Firmenparkplatz so weit hinten wie möglich ab – sie überlassen damit den Spätkommern die Pole Position am Eingang, damit auch diese es noch rechtzeitig ins Büro schaffen. Dieses Verhalten entspricht dem japanischen Konzept von Kikubari: die Kunst, andere mit Umsicht zu behandeln. Das Wohl der Gruppe und das Vorausahnen der Bedürfnisse anderer stehen dabei an oberster Stelle.
Ganz schön utopische Idee mit dem Parken für uns “Langnasen”, oder? Gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt sind in Japan nicht nur gelebter Alltag, sondern tief verankerte kulturelle Prinzipien – sichtbar in Gesten wie dem Verbeugen, dessen Neigung je nach Gegenüber fein abgestufte Höflichkeitsgrade ausdrückt. Auch die japanische Sprache kennt zahlreiche Ebenen der formellen und informellen Ansprache, die präzise soziale Hierarchien widerspiegeln. Der Wechsel vom höflichen zum vertrauten Ton ist dort ein bewusster, oft bedeutungsvoller Schritt.
Das Du: Digital so nah – analog doch noch fern
Damit komme ich zum eigentlichen Thema, die Sache mit dem vertrauten “Du” und dem höflichen “Sie” hierzulande und den zunehmend fließenderen Übergängen. Früher war klar: Man sagte „Sie“, bis das „Du“ angeboten wurde – ob im Büro, Bistro oder beim Bäcker. Funktioniert das heute noch so?
#gerneperDu
In der digitalen Kommunikation ist das „Du“ ja inzwischen praktisch Standard: auf Webseiten, in Newslettern, Social Media und in persönlichen E‑Mails, die unter der Signatur mit #gerneperDu auch den letzten Zauderern noch eine Brücke anbieten.
Diese Gepflogenheit macht es heutzutage einfach, nahbar, offen und unkompliziert, kurzum irgendwie auf Augenhöhe zu erscheinen.
Was das Duzen im virtuellen Raum betrifft, so habe mich, ehrlich gesagt, inzwischen daran gewöhnt. Auch, wenn ich auf meiner eigenen Website — noch — überwiegend auf das “Sie” zurückgreife.
Doch eine Begegnung in der analogen Welt ist eine Begegnung mit der Realität, wo etwas wie Alter und Status des Gegenübers sichtbar wird. Und da kommt der Kulturwandel doch nicht so schnell mit: Das Du, das digital so selbstverständlich ist, weicht in der Realität oft wieder dem „Sie“. Face-to-face mit mir älterer Person können 20- oder 30-Jährige das “Sie” nur schwer loslassen; das fällt mir immer wieder auf.
Take it easy – Du und Sie anderswo
Wird das Du auch in unserer Kultur über kurz oder lang seinen festen Platz finden? Dafür spricht auf jeden Fall die Dominanz des Englischen in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung. Das Englische kennt nur you, egal ob ich mit dem Großvater oder der CEO spreche. You lässt sich zwar nicht direkt mit dem deutschen Du gleichsetzen, erzeugt jedoch häufig denselben Eindruck von Vertrautheit – besonders, wenn die Anrede mit dem Vornamen kombiniert wird. Der Unterschied zur höflichen Ansprache wird über Tonfall, Wortwahl und Höflichkeitsfloskeln vermittelt: Would you mind…? klingt anders als Can you…?
Auch bei unseren niederländischen Nachbarn ist das “u”, das formelle “Sie” im Alltag kaum noch gebräuchlich und wird nur in deutlich formellen Kontexten (Bewerbungsschreiben, Behörden…) oder gegenüber Senioren angewandt; es überwiegt das informelle “Du”, “je/jij“.
In Skandinavien ist das Duzen gesellschaftlicher Konsens. Egal ob auf dem Amt, in der Schule oder im Krankenhaus: Alle sagen Du. Respekt zeigt sich nicht über Distanz, sondern über den Umgang: Zuhören, auf Augenhöhe sprechen, keine Machtdemonstration. #gerneperdu
Große Schwester, großer Bruder — Respekt ausdrücken in der Türkei
In meinem Beitrag Dört Gözle haben meine Leserinnen und Leser schon erfahren, dass ich gerade Türkisch lerne – eine Sprache, in der die Ansprache besonders fein differenziert wird. Grammatikalisch wird der Unterschied zwischen vertraut und förmlich, wie im Deutschen, mit der 2. Person Singular (“Du” — “sen”) und 2. Person Plural (“Sie” — “siz”) ausgedrückt. Doch die traditionelle Anrede geht über diese Ebene hinaus: Statt Vor- und Nachnamen kombiniert man meist den Vornamen mit einem Höflichkeitstitel – etwa „Erol Bey“ (Herr Erol) oder „Aylin Hanım” (Frau Aylin).
Hinzu kommt eine komplexe Struktur von Verwandschaftsbezeichnungen, die als soziale Titel fungieren und sowohl den Höflichkeitsgrad als auch die eigene Rolle ausdrücken. In der Ansprache an Ältere oder Erfahrenere sind auch Bezeichnungen wie Abi (großer Bruder), Abla (große Schwester) oder Teyze (Tante) üblich – unabhängig vom Verwandschaftsverhältnis. So wird die Kollegin zur Elif Abla, die Nachbarin zur Emine Teyze und der Gemüsehändler zu Mehmet Abi.
Die türkische Sprache bietet damit deutlich mehr Spielraum als das deutsche „Du“ und „Sie“, um Nähe und Respekt gleichzeitig auszudrücken. Anredeformen wie „Abi“ oder „Teyze“ schaffen einen warmherzigen, respektvollen Ton – ohne die strikte Entscheidung zwischen distanziertem Siezen und vertrautem Duzen.
Es muss nicht immer “Sie” sein
Ob soziale Titel, Handschlag oder Verbeugung: Es gibt also viele Wege, Respekt und Rollen auszudrücken – nicht immer braucht es dafür ein „Sie“. In der deutschen Sprache, so scheint es mir, definieren wir gerade unseren Ausdruck für Nähe und Höflichkeit neu. Wir machen uns die Duzkultur im Netz immer mehr zu eigen, hinken aber analog zuweilen noch hinterher, getragen von einem gewissen Unbehagen, mit der Tradition zu brechen…
Ich finde: Solange der Ton stimmt, darf auch die Form flexibler werden. Und wenn wir dabei noch ein bisschen Kikubari mitlernen, wär das doch gar nicht so verkehrt.
Dieser Beitrag findet große Resonanz. Dafür möchte ich mich bedanken, und zwar mit zwei verschiedenen Designs für einen Sticker #gerneperdu – und, alternativ, #lieberperSie. Sie können einfach in der E‑Mail-Signatur oder auf Social Media verwendet und per Klick kostenlos heruntergeladen werden: